Aus einer Reisenotiz vom 10. September 1990: „Bei der Busfahrt von Steinach, eben noch mit der Lektüre eines Zeitungsartikels beschäftigt, der die Massentierhaltung als Auswuchs moderner Landwirtschaftstechnik geißelt, fällt der Blick zufällig aus dem Fenster. Die Zeitmaschine ist in Funktion: Auf winzigen, ins Grünland eingestreuten Getreidefeldern sind Frauen mit Sicheln beschäftigt, das Korn zu schneiden, Männer bündeln die Schwaden und binden sie auf: Eine Handvoll gebückter Gestalten, voll merkwürdiger Ähnlichkeit zwischen den Arbeitenden und den aufgestellten Garben: Mannshoch der Roggen, Kindergestalten in Form und Größe gleichend der Hafer. Warum dieser Aufwand? Was bewegt hier die Menschen, in Zeiten allgemeinen Nahrungsüberflusses auf einem steilen Grundstück von der Größe eines Gemüsegartens Getreide anzubauen? Ein Rätsel, das durch die Tatsache des Vorbeigleitens am Busfenster und die Unmöglichkeit, die Arbeitenden zu befragen, doppelt reizvoll wird. Und über allem ein fahler, von Wolkenstreifen durchzogener Himmel und ein Bergwind, der das Erlenlaub am Bach weiß kämmt …”
Und heute?
Eigentlich hat sich wenig geändert: Die damals schon auffällige Harmonie der Kulturlandschaft erfreut auch heute noch den Betrachter. Und die Getreidefelder haben – fast ein kleines Wunder – dem europäischen Agrarstrukturwandel getrotzt, es gibt sie immer noch. Mittlerweile weiß ich, dass hier vorzugsweise der Tiroler Schwarzhafer kultiviert wird, der in früherer Zeit als “Doping” für die Zugpferde auf der Brennerroute diente. Heute findet sich dieser Hafer in Spezialbroten und im Biomüsli einer Innsbrucker Traditionsbäckerei.
Und die wuchtige Gebirgsumrahmung ist ohnehin zeitlos: Hier befinden wir uns eindeutig auf der wilden Seite des Tuxer Hauptkammes: Fußstein, Schrammacher und Sagwandspitze umzäunen wie dunkle Mauern den Talschluss von Innervals. Von hier erreicht man ohne große Mühe die herrlich gelegene Geraer Hütte. Sie duckt sich unter die mauerglatte Fußstein-Nordkante, über die eine berühmte hochalpine Klettertour führt.
Ein visueller Leckerbissen ist auch der Talschluss des Schmirntales – der Kaserer Winkel. Das Landschaftsbild könnte von einem Meister der romantischen Malerei entworfen worden sein: Eine ehrwürdige Gebäudegruppe schart sich um eine uralte Zirbe, die wie ein zerzauster Riese den Zugang ins Hochgebirge zu bewachen scheint. Die auf beiden Seiten steil hinaufziehenden Waldhänge lenken den Blick auf die majestätische Berggestalt des Olperer, ein beeindruckender und von dieser Seite nicht eben leicht zu bezwingender Dreitausender.
Nichts deutet hier auf das Getriebe hin, das auf der anderen Seite dieser Berge herrscht. Der Skizirkus von Hintertux bleibt hinter den Graten verborgen, kein Getöse und Gewimmel dringt in unser Tal herab. Nur das vom Wind modulierte Rauschen des Baches ist hörbar. Seinem Mantra lauschend schweifen die Gedanken weit zurück in die Frühzeit der Talgeschichte. “Vallis smurne” und “Valle” hieß das Gebiet in alten Urkunden. Wie in vielen entlegenen Alpentälern kamen die ersten Siedler bereits in vorrömischer Zeit von “hinten” über die Jöcher, weil die schroffen Schluchten an den Taleingängen erst in moderner Zeit überwunden werden konnten und das Weltgeschehen für lange Zeit auf Distanz blieb. Müssen wir darin das Geheimnis der natürlichen Harmonie und besonderen Aura sehen, das in diesen Tälern auf Schritt und Tritt zu spüren ist?