Der Wildnis entrissen, von Kloster und Königshaus wachgeküsst

Die Gipfel aus den einstigen Meeresböden des Urmeers Tethys aufgefaltet, die Bergflanken und Flusstäler von Gletschern geschliffen, die gesamte Landschaft von einem undurchdringlichen Urwald bewachsen: Das Land südlich des Tegernsees war über viele Jahrtausende eine höchst unwirtliche Gegend. Die Menschen hielten sich von dieser „terra incognita“ fern. Die ersten, die das Dickicht durchstreiften, dürften mutige Jäger und Sammler gewesen sein; darauf deuten spärliche Funde aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit hin. Von Süden kamen frühe Händler auf Saumpfaden über die Alpen. Ein Quellenheiligtum mit etruskischen Schriftzeichen südlich der Blauberge und zwei bronze- zeitliche Kultstätten in den Tegernseer und Kreuther Bergen zeugen davon. Einer dieser „Urwege“ war ein Gebirgsübergang, der in keltischer Zeit vom Inntal über das heutige Brandenberg und die Wildalm durch die Langenau zum Tegernsee und von dort weiter in Richtung Norden führte. Eine echte Besiedlung freilich wagte niemand. Diese reichte in römischer und auch merowingischer Zeit nur bis ins Alpenvorland. Südlich davon zog sich ein dunkler Waldgürtel entlang des Alpen- rands. Ihn urbar zu machen und zu besiedeln, das wagten die Menschen erst mit göttlichem Beistand …

Und so ist auch die Erschließung des Weißachtals, das heute Kreuth und seine Ortsteile beherbergt, eng verknüpft mit der Gründung des Klosters Tegernsee im 8. Jahrhundert. Auf Initiative und unter Aufsicht der Klosterherrschaft begann eine ausgedehnte Rodungstätigkeit vom See ausgehend in Richtung Süden. Es war eine Arbeit mit Axt und Feuer, die über Generationen währte. Im Ortsnamen lebt sie bis heute fort: Kreuth kommt von „im Gerodeten“. Einheimische aus dem Tal sagen bis heute: „Mir fahr’n ins Kreith.“

Der Patron an der Passstraße

Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort im Jahr 1184. Damals erbaute der Tegernseer Abt Rupert I., Graf von Neuburg-Falkenstein, dem Heiligen Leonhard hier eine Kirche aus Stein. Hintergrund war die Lage Kreuths an der unvermindert gefährlichen Route über die Berge. Und Leonhard, heute vor allem als Schutzpatron für Vieh und Pferde bekannt, galt als Beschützer und Tröster an Passstraßen. Er blieb der Kreuther Ortspatron, auch als Graf Heinrich von Tirol, Herzog von Kärnten, im Jahre 1320 den Fahrweg durch das Achental und über den Stubenpass ins Kreuther Tal eröffnete. Gut 120 Jahre später wurde auf dieser Straße neben vielen anderen Gü- tern auch Silber transportiert. Im Auftrag der Fugger reiste das wertvolle Metall aus den Silbergruben im tirolerischen Schwaz nach Augsburg.

Als Grundherr bestimmte das Kloster über die Nutzung des Landes, aber auch das Leben der Menschen. Neben der Rodung neuer Flächen unterlag die Errichtung neuer oder die Teilung bestehender Hofstellen seiner Entscheidung. Die so wichtige sommerliche Almweide war ebenso geregelt wie die Waldnutzung und der Holzeinschlag. Weil das Kloster in langen Zeiträumen plante, war es im Umgang mit der ihm anvertrauten Natur nicht auf kurzfristigen Gewinn aus; es erstrebte vielmehr Dauerhaftigkeit des Ertrags. Die Bauern hatten Naturalabgaben sowie Hand- und Schardienste für die Abtei zu leisten. Umgekehrt übernahm das Kloster Fürsorgepflichten, etwa im Bereich der Sozialfürsorge und der Bildung.

Mit der Säkularisation von 1803 wechselte für die Klosterbauern der Grundherr. Der Tegernseer Historiker Dr. Roland Götz schreibt: „Statt den Mönchen unterstanden sie nun dem Staat. Ihre bisherigen Abgaben blieben ihnen dadurch natürlich nicht erspart, sie mussten sie jetzt eben ans Finanzamt zahlen. Allerdings bot der Staat – im Bestreben, seinen desolaten Haushalt zu sanieren – die Möglichkeit, die aus dem Grundobereigentum herrührenden Lasten durch die Einmalzahlung eines Mehrfachen der bisherigen Jahresabgaben abzulösen. Die Bauernfamilien machten davon je nach ihren finanziellen Möglichkeiten früher oder später Gebrauch.

Erst das Revolutionsjahr 1848 brachte die allgemeine Pflicht zur Ablösung der Grundlasten. Mit dieser Ablösung wurden die Bauernfamilien erstmals unbeschränkte Eigentümer der von ihnen bewirtschafteten Anwesen. Die von der Königlichen Regierung von Oberbayern ausgestellte große Pergamenturkunde mit anhängendem Siegel, die die erfolgte Ablösungszahlung bestätigt, findet sich bis heute in den Familienunterlagen auf vielen Höfen des Landkreises. Sie markiert eine neue Epoche, die der freien Bauern.“

Bauern und Hochadel

Die Säkularisation nahm dem Tal aber auch sein historisches Zentrum. Über 1.000 Jahre lang hatte das Kloster das geistliche Leben, die Kultur und Wirtschaft geprägt. Ein Besuch des bayerischen Königs Max I. Joseph und seiner Gemahlin Karoline im Jahr 1815 sollte eine neue Epoche einleiten. Das Paar verliebte sich in das ehemalige Kloster am Seeufer, kaufte es „auf eigene Rechnung“ dem zwischenzeitlichen privaten Besitzer ab und machte es zur Sommerresidenz. Weitere zuvor klösterliche Besitzungen, darunter Wildbad Kreuth, der Enterbacher Marmorbruch und Almen kamen hinzu. Im Gefolge der königlichen Herrschaften reisten Adlige, Künstler und Sommerfrischler an. Der Tourismus war geboren.

Wirtschaftlich war Holz das wichtigste Gut. Es war Bau- und Heizmaterial; kein Haus, kein Stuhl, kein Wagen oder Wagenrad war ohne Holz denkbar. Die Arbeit im Bergwald war schwer und gefährlich, und gerade im Frühjahr und Sommer verbrachten die Männer oft mehr Zeit miteinander als bei ihren Familien drunten im Tal. Kein Wunder also, dass es die Holzknechte waren, die anno 1818 den ersten Kreuther Verein gründeten. Ihr „Vinzentius-Verein“ kann als frühe Form solidarischer Absicherung gelten, der half, wenn ein Mitglied durch einen Arbeitsunfall Gesundheit oder Leben verlor.

Als Salz die Flüsse begradigte

Etwa um 1810 gelangten die Kreuther Wälder in den Einzugsbereich der Saline Rosenheim. Die Salzgewinnung bildete für den bayerischen Staat eine wesentliche Einnahmequelle. Doch die dortigen Waldungen waren wegen des enormen Brennholzbedarfs der Salinenwerke so gut wie ausgebeutet. Neuer Brennstoff musste her – dieser sollte unter anderem aus den fernen Kreuther Bergen kommen. Und das, als einzige gangbare Möglichkeit, auf dem Wasserweg: Von den Bergflüssen in den Tegernsee und von dort über die Mangfall bis in den Inn. Die Weißach, aber auch die Rottach und weitere Bäche wurden zu diesem Zweck zu „Triftkanälen“ umgebaut, mit jenem weitgehend schnurgeraden Flussverlauf, der sie bis heute kennzeichnet. Der Aufbau dieses Triftbetriebes stellte eine der großen technischen Leistungen der damaligen Zeit dar. Zur Trift wurden im Kreuther Revier der Reitbach, der Schliffbach, der Albertsbach, der Schwarzenbach, die Hofbauernweißach (Siebenhütten) und die Waldweißach (Glashütte) genutzt. Die Großweißach (so genannt ab dem Zusammenfluss von Hofbauern- und Waldweißach; heute nur noch Weißach genannt) wurde fast auf der gesamten Strecke, das sind etwa zwölf Kilometer oder drei Wegstunden, mit steinernen Buhnen (Schutzwällen) und parallel laufenden Landdämmen korrigiert und kanalisiert. Die letzte Holztrift auf der Weißach fand 1912 statt.

Durch seine Lage im bayerisch-tirolerischen Grenzgebiet fanden auch die Kriege der vergangenen Jahrhunderte ihren Weg in den stillen Kreuther Winkel, vom Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert über den Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg und die Koalitionskriege im 18. bzw. beginnenden 19. Jahrhundert. Aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts kehrten 144 Männer aus der Gemeinde (Einwohnerzahl 1939: ca. 1.500) nicht mehr lebend nach Hause zurück. Und auch das Schicksal des Tals selbst stand in den letzten Kriegstagen im Mai 1945 noch einmal auf Messers Schneide. Der selbstlose Einsatz einer Handvoll Parlamentäre, bestehend aus Einheimischen und Evakuierten, verhinderte in letzter Minute ein geplantes Bombardement.

In Europa verbandelt, sportlich erfolgreich

Der Wunsch, Grenzen zu überwinden und eine lebendige Nachbarschaft zu pflegen, stand auch Pate bei der 1976 begründeten „Grenzlandpartnerschaft“ mit der österreichischen Nachbargemeinde Achenkirch. Seit 2005 pflegt Kreuth zudem eine Partnerschaft mit der französischen Gemeinde Prunay-en-Yvelines (Region Île-de-France).

Bereits seit den 1920-er Jahren tragen insbesondere Wintersportler den Namen ihrer Heimatgemeinde hinaus in die Welt, darunter Alpinskifahrer wie Alfred Hagn und Willi Lesch, Langläufer und Biathleten wie Georg Hagn und Heinrich Mehringer, Skispringer wie Alois Kratzer und immer wieder Rennrodler wie Heinz Gdanitz, Fritz Nachmann und Josef Strillinger. Die bekannteste unter den Kreuther Sportlern ist aktuell die Skirennläuferin Viktoria Rebensburg, die u.a. 2010 die olympische Goldmedaille im Riesenslalom errang.

1979 trugen sich die Kreuther Bergsteiger Sepp und Hans Gloggner mit der Erstbesteigung des Lupghar Sar (7.181m / Westgipfel) in Pakistan als „Tegernseer Expedition“ in die Bergsteigerhistorie ein.