Alpintourismus neu gedacht
Vor 15 Jahren rief der Alpenverein die Initiative Bergsteigerdörfer ins Leben. Was als ambitionierte Idee zur Unterstützung peripherer alpiner Regionen begann, ist heute ein weit über den Alpenverein hinaus bekannter Begriff.
Ein Bergsteigerdorf – die Bilder im Kopf entstehen dazu automatisch: Ein hübscher Ortskern mit Kirche, ein gemütliches Gasthaus zur Einkehr nach der Tour, im Hintergrund die Bergwelt, die Bergsteiger*innen ❶ schon beim Anblick Touren planen lässt. Doch so, wie der Alpenverein sie für sich definiert hat, steckt noch sehr viel mehr dahinter. Denn die Bergsteigerdörfer, die er auszeichnet, haben neben ansprechendem Ortsbild und Bergsportmöglichkeiten etliche weitere Komponenten, wie ihre intakte Natur- und Kulturlandschaft, eine ausreichende, wenn auch kleinstrukturierte, touristische Infrastruktur, wie Beherbergungs- und Gastbetriebe und die Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Skischaukeln sucht man hier vergeblich, ebenso große Hotelkomplexe oder stark befahrene Schnellstraßen. Das wird über strenge Kriterien gewährleistet.
Auf Ortsebene soll eine gesamtheitliche nachhaltige Entwicklung verfolgt werden und der Alpenverein hat es sich zur Aufgabe gemacht, hier zu unterstützen. Zum einen über die Auszeichnung, die darauf hinweist, dass naturnaher Bergsport gekoppelt mit sanften Tourismusformen hier zu finden sind, zum anderen über eine stetige Bewusstseinsbildung bei den eigenen Mitgliedern, wenn es um sicheres oder respektvolles Verhalten am Berg, um die Wertschätzung von alpinen Lebensräumen oder um die Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten geht.
Durch Wertschätzung zu Wertschöpfung
Der Gedanke, dass Alpenvereinsmitglieder bzw. Bergsportler*innen dazu beitragen können, die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung in peripheren Lagen aufzubessern, wird auch dem Kuraten Franz Senn zugeschrieben, der von 1860 bis 1872 in Vent gewirkt und den Deutschen Alpenverein mitbegründet hat. Er sah in der Errichtung von Steigen, der Bereitstellung von Unterkünften oder dem Führen von Gästen eine Einnahmequelle, mit der sich die Leute in den hinteren Alpentälern ein Zubrot verdienen konnten. Doch nicht nur der Idealismus in der frühen Vereinsgeschichte ist Hintergrund der Bergsteigerdörfer. Ihre Philosophie fokusiert stark auf die Alpenkonvention, die als völkerrechtlicher Vertrag Bereiche und Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung des Alpenraums festlegt. So ist in der Deklaration „Bevölkerung und Kultur“ u.a. die Förderung der kulturellen Vielfalt verankert, im Protokoll „Tourismus“ wird die Diversifizierung sowie die Förderung eines naturnahen und umweltschonenden touristischen Angebots gefordert. Weitere Aspekte aus diversen anderen Bereichen der Alpenkonvention, wie die Einbindung der Berglandwirtschaft und der Bergwaldwirtschaft, die nachhaltige Mobilität, der ressourcenschonende Umgang mit Boden, Naturschutz und Landschaftspflege fließen ebenfalls in den gedanklichen Überbau der Initiative Bergsteigerdörfer ein.
Die Zeichen der Zeit erkannt
Mit der Ratifizierung der Alpenkonvention 1991 und der Erklärung des ÖAV 1994, periphere Berggebiete unterstützen zu wollen und den ökologisch verträglichen Tourismus zu fördern, wurde der Weg für eine Initiative geebnet, die sich als erfolgreich erweisen sollte. Neben diesen politischen Entwicklungen ging die „Renaissance der klassischen Bergtourismusformen, wie Wandern, Bergsteigen, Klettern und Schitouren dabei Hand in Hand mit einer nachvollziehbaren Sehnsucht nach Authentizität und echter unverblümter Erholungswirkung.“ Im Auftrag von Peter Haslacher, dem damaligen Leiter der Abteilung Raumplanung und Naturschutz im ÖAV, entwickelte Roland Kals, Raumplaner und heute Vorsitzender der Sektion Salzburg, ein Kriterienset, um Orte auszuwählen, die vor allem die naturräumlichen und landschaftlichen Voraussetzungen für diese Formen des Alpintourismus boten und zugleich vor großen technischen Erschließungen im alpinen Bereich weitestgehend verschont geblieben sind. Ebenso war die Bereitschaft der Gemeinden, ihre Gemeinde- und Tourismusentwicklung im Sinne der Alpenkonvention auszurichten, entscheidend für die Auswahl der Teilnehmerorte in der Initiative Bergsteigerdörfer. Im Juli 2008 wurden 16 Dörfer, die sich über den österreichischen Alpenraum verteilten, in Ginzling als Bergsteigerdörfer deklariert, in den darauffolgenden Jahren bewarben sich weitere. Auch über die Grenzen Österreichs hinaus wurde diese Entwicklung aufmerksam verfolgt und ab 2016 traten weitere Alpine Vereine der Initiative bei. Mit Stand 2022 tragen 36 Orte und Regionen in den Alpen die Auszeichnung Bergsteigerdorf, die inzwischen gemeinschaftlich von Österreichischem Alpenverein, Deutschem Alpenverein, Alpenverein Südtirol, Slowenischem Alpenverein (PZS), Italienischem Alpenverein (CAI) und Schweizer Alpen-Club vergeben werden.
Ausblick
Die internationale Zusammenarbeit der Vereine, aber auch der Dörfer untereinander, wird in den kommenden Jahren wichtig sein, um die Bergsteigerdörfer als Modellregionen für naturverträglichen Alpintourismus weiterzuentwickeln und dabei aktuelle gesellschaftliche Strömungen zu berücksichtigen. So dienen sie nicht nur anderen Orten in den Alpen als Vorbild, auch die Besucher*innen können hier erfahren, wie Bergtourismus abseits der großen touristischen Zentren funktioniert. Der Weitblick der Projektinitiator*innen schwingt weiterhin nach, und so ist das touristische Angebot hier immer als Teil eines übergeordneten Ziels zu sehen: die Bergsteigerdörfer sollen Orte des guten Lebens in den Alpen sein.
❶ Definition Bergsteiger aus dem Alpenvereins-Jahrbuch 1925: „Darnach ist unter Bergsteiger zu verstehen, jeder junge angehende Kletterer und ebenso auch der Veteran der Berge, der harmlose Hochbummler wie der eis- und wintererprobte Hochturist, der Gebirgler und der Städter des fernen Flachlandes, wenn einer nur um der Berge willen in die Berge geht.“