Benvenuto und Bainvgnü

Dolce Vita trifft den Schellen-Ursli

Unterschiedlich könnten die beiden Dörfer nicht sein und doch sind beide Dörfer neue Mitglieder der Bergsteigerdörfer und tragen dieselbe Auszeichnung. Die Familie der Bergsteigerdörfer hat mittlerweile das zweite Dorf der Schweiz mit Lavin, Guarda & Ardez aufgenommen und mit Balme das fünfte Dorf in Italien.

Lavin, Guarda & Ardez

Drei Dörfer werden ein Bergsteigerdorf

Ganz im Osten der Schweiz im Kanton Graubünden befindet sich das Unterengadin mit den drei Dörfern Lavin, Guarda & Ardez. An die Sonnenhänge des oberen Inntals schmiegen sich die Dörfer Ardez und Guarda, die eingebettet in die Kulisse des Silvrettagebirges mit beschaulichen historischen Ortskernen beeindrucken, in denen die Hauswände mit den, für das Engadin typischen Sgraffiti verziert sind.

Lavin, flussabwärts das erste der drei Dörfer, unterscheidet sich optisch stark von den beiden anderen Dörfern. Grund dafür ist ein tragischer Dorfbrand 1869, welcher das Dorf in Schutt und Asche legte. Der Wiederaufbau wurde vom Kanton geplant und durchgeführt, so wurden von 68 Häusern nur rund die Hälfte wieder aufgebaut. Dieser Wiederaufbau prägt das Dorfbild bis heute. Weil die Einheimischen Laviner Zuckerbäcker waren und viele ihr Glück in Italien suchten und auch fanden, stammten Geld, Pläne und Baumeister zu einem grossen Teil aus dem Süden. Ardez und Guarda sind zwei typische Engadiner Dörfer.

Die Unterengadiner Bergwelt inspirierte die Kinderbuchautorin Selina Chönz zu einer, in der Schweiz bekanntesten Geschichte, die des Schellen-Urslis. Die Geschichte des Schellen-Ursli wurde 2015 vom Schweizerfernsehen verfilmt.

Die zwei bekanntesten Gipfel im Silvrettagebiet sind sicherlich der Piz Buin und der Piz Linard. Wie fast überall in der Schweiz und in Europa, so war auch im Unter­engadin das 19. Jahrhundert der Beginn des alpinen Tourismus. 1835 wurde der Piz Linard und 1865 der Piz Buin das erste Mal bestiegen. Im gleichen Jahr, 1865, erklärte der Schweizer Alpen-Club (SAC) die Silvretta zum Clubgebiet. Als Ausgangspunkt für die verschiedenen Hoch- und Skitouren diente ab 1914 die Chamonna Tuoi CAS (2.250 m), welche bis 1934 im Besitz der SAC Sektion Pilatus war. Diese Sektion stammt aus dem Kanton Luzern, welcher die Farben Weiss und Blau in seinem Kantonswappen trägt. Die Fensterläden der Chamonna Tuoi CAS tragen diese Farben bis heute.

Die zweite SAC-Hütte im Bergsteigerdorf Lavin, Guarda & Ardez ist die Chamonna dal Linard CAS (2.327 m). Diese klassische SAC-Hütte ist nur im Sommer geöffnet und wird ehrenamtlich von den Mitgliedern der SAC Sektion Engiadina Bassa Val Müstair betrieben.

Eine der schönsten, aber auch anspruchsvollsten Wanderungen im Unterengadin führt durch den einzigen Nationalpark der Schweiz. Gestartet wird die Wanderung beim Tor des Nationalparks, in Zernez. Der Höhepunkt der Wanderung sind die 23 Seen auf dem Hochplateau zwischen Lavin und Zernez, die Lais da Macun oder zu Deutsch Macunseen. Insbesondere im Herbst mit den verschiedenen Farben der Lärchen ist die Weitwanderung empfehlenswert.

Heute leben in Lavin und Guarda je rund 200 Menschen, rund doppelt so viele in Ardez. Wie im ganzen Unterengadin wird hier vorwiegend Romanisch, genauer gesagt «Vallader», gesprochen, welches zusammen mit dem Oberengadiner «Puter» und dem «Jauer» im Val Müstair das Engadiner Romanisch bildet. Als fester Bestandteil der regionalen Kultur und der Identifikation begegnet man dem Romanischen nicht nur in Liedern und Büchern, sondern auch überall auf der Straße und in der Schule. Bis Ende der dritten Primarklasse ist Romanisch die einzige Unterrichtssprache. Danach wird als erste «Fremdsprache» Deutsch gelernt. Obwohl alle Unterengadiner Deutsch sprechen, freut man sich über ein «Allegra» oder «Bun di», sollte es auch nicht ganz perfekt ausgesprochen sein. Man sollte aber nicht überrascht sein, falls die Einheimischen anschließend nur noch Romanisch mit einem sprechen. Die Sprache und die Kultur sind wichtige Identifikationen und verbinden der drei Dörfer zum Bergsteigerdorf Lavin, Guarda & Ardez.

Balme

Das Dorf der Bergführer

Nahe der bekannten Millionenstadt Turin liegt das kleine, verschlafene Dorf Balme. Mit seinen 112 Einwohnern ist es eines der kleinsten Bergsteigerdörfer und wer hier Metropolenfeeling sucht, ist definitiv ein paar Autobahnausfahrten zu weit gefahren. Gemächlich schlängelt sich die Anfahrtsstraße zwischen den typisch engen, italienischen Häuserzeilen den Berg hinauf bis auf 1.432 m Seehöhe, wo sich die Gemeinde Pian della Mussa befindet.

Im 19. Jahrhundert war Balme die Wiege des Bergsteigertourismus, wobei der wohl berühmteste Name im Tal Antonio Castagneri war. Ausgerüstet mit heute undenk­barem Equipment zogen damals die mutigen Bergführer Balmes mit den Touristen aus Turin und der näheren Umgebung los, um die umliegenden Gipfel zu erklimmen. Zunächst wurde der Grund deren Besteigung nicht verstanden, da alles, was die Bevölkerung Balmes brauchte, ja unten im Tal zu finden war. Nur Schmuggler, die Ware über die nahe gelegene Grenze zu Frankreich bringen wollten, wagten den dubiosen Aufstieg. Durch den immer stärker aufkommenden Tourismus im Tal wurde dem Beruf des Bergführers allmählich der Heldenstatus zugesprochen, welcher in Balme noch bis heute stolz weitergetragen wird.

Durch die Abgeschiedenheit der Täler von Lanzo haben ihre Bewohner bereits seit dem ersten Tag eine enge Verbundenheit zu ihrer umliegenden Natur, und an Tradi­tionen wurde und wird noch immer vehement festgehalten. Diese Überzeugung le­ben auch Gianni Castegneri, Inhaber der Trattoria Alpina, das Hotel Les Montagnards oder die Betreiber der renovierten Alm Agriturismo La Masinà – um nur einige zu nennen. Dies sieht man auch im mit Liebe eingerichteten Dorfmuseum im Herzen Balmes. Nicht nur Touristen verirren sich regelmäßig in die kleine Ausstellung; auch für die Einheimischen dient es in gewisser Weise als Erinnerungsort an verstorbene Legenden, wie Toni Castagneri, oder als begehbares Familienalbum, wo Großväter als Pioniere des Alpinismus bewundert werden. Mit viel Leidenschaft wird das Museum von der Bevölkerung stetig um neue Geschichten und Fundstücke erweitert.

Es gibt zwei Berghütten, welche sich auf dem Gebiet rund um Balme befinden. Zum einen das Rifugio Bartolomeo Gastaldi auf 2.659 m, das ganzjährig geöffnet und bewirtet ist. Die Hütte ist Ausgangspunkt ins Tal Val D’Ala und beliebt als Übernachtungsmöglichkeit auf der Tour della Bessanese. Zum anderen das Refugio Città di Ciriè, welches im Sommer der ideale Ausgangspunkt für unvergessliche Sommerwanderungen oder im Winter für Skitouren und Eiskletterer ist.

Die goldenen Jahre Balmes liegen heute weit in der Vergangenheit. Doch haben die Bewohner des Dorfes den Charme über all die Jahre nicht verloren und Fremde werden, wie alte Freunde, mit offenen Armen empfangen. Somit lebt der Geist der verblichenen Helden des Alpinismus in der Gesellschaft weiter und wird jedem auf dem Weg mitgegeben, der den seinigen nach Balme findet. Giorgio Inaudi hat mit seiner Aussage genau die richtigen Worte gefunden, um auszudrücken, welche Auswirkungen das Bergsteigerdörfer Label auf Balme mit sich bringen wird: «Besucher, die Einheimischen und vor allem die jungen Leute, können vielleicht innehalten und nachdenken, bevor sie alternative Wege einschlagen oder weiterziehen und sich daran erinnern, dass in unseren Tälern der Weg immer nach oben führt. »

Mögen die zwei neuen Bergsteigerdörfer so verschieden in der Sprache sein, doch eint die zwei Dörfer, die Geschichte und die Leidenschaft für den Bergsport. Benvenuto und Bainvgnü in Balme und Lavin, Guarda & Ardez.