Wildnis abluchsen
Neuzugang im Nationalpark
Seit 2019 verbindet der Weitwanderweg Luchs Trail drei Schutzgebiete und drei Bundesländern miteinander. In elf Tagen wandert man vom Nationalpark Kalkalpen in Oberösterreich über den Nationalpark Gesäuse in der Steiermark mit seinem Bergsteigerdorf Johnsbach bis ins Wildnisgebiet Dürrenstein mit dem Bergsteigerdorf Lunz am See in Niederösterreich. Wir haben Nationalpark-Direktor Herbert Wölger und Tourismus-Geschäftsführer David Osebik im steirischen Gesäuse besucht und mit ihnen über das Erfolgsgeheimnis des neuen Trails gesprochen. Ein Interview an der Schnittstelle von Wildnis, Artenschutzprojekt, Bergsteigerdorf und Tourismus.
Mit Etappe 5 des Luchs Trails gelangt man ins Bergsteigerdorf Johnsbach im Nationalpark Gesäuse. Profitiert ein Nationalpark eigentlich von einem Bergsteigerdorf?
Herbert Wölger: Wir teilen gewisse Werte. Als Nationalpark ist mir ein Bergsteigerdorf als Nachbar viel lieber als ein massentouristisches Zentrum. Hier gibt es schlicht keine Bestrebungen, gegen die Ziele und Regeln des Nationalparks zu drücken. Bergsteigerdorf und Nationalpark bilden eine hervorragende wertedeckungsgleiche Kombination. Das, was uns in die Wiege gelegt worden ist, macht uns stark: Wir sind wirklich klein und familiär. Das liegt auch an der gegebenen Struktur, bei uns gibt es ganz einfach keine großen Hotelburgen.
Welche konkreten Vorteile bringt ein Bergsteigerdorf für den Tourismus mit sich?
David Osebik: In Johnsbach gibt es ein stilles Selbstbekenntnis sowohl der Einwohner als auch der Gäste zum Thema Bergsteigen. Es gibt bei uns keinen Wirt, der nicht auf Bergsteiger ausgerichtet ist. Das Schöne daran ist, dass Quell- und Zielgruppe hervorragend zusammenpassen. Hinzu kommt, dass es kaum glaubwürdigere oder authentischere Prädikate als das Bergsteigerdorf im österreichischen Tourismus gibt. Damit verbindet sich das Versprechen einer alpinen Lebensart und auch einer Form der Selbstbeschränkung.
Wenn das Bergsteigerdorf das fertige Gericht ist: Welche Zutaten steuern Tourismus und Nationalpark bei?
David Osebik: Wir haben uns im Gesäuse darauf verständigt, dass der Wertegeber immer der Naturschutz ist. Wir glauben wirklich an einen nachhaltigen Tourismus, an einen Prozess, der sowohl die Gäste, als auch die Bewohner positiv zurücklässt. Der Nationalpark ist wie ein Vatikan im Glaubenssatz des nachhaltigen Tourismus, insofern kann es nur wenige Konfliktpunkte zwischen uns geben. Ich bin davon überzeugt, dass in der Reduktion die größte Wertschöpfung für den Tourismus steckt, da kann man fast gar nicht radikal genug sein.
Herbert Wölger: Ich sehe das ganz ähnlich. Die Zusammenarbeit von Tourismusverband und Nationalpark im Gesäuse ist eine Best-Practice-Kooperation, wie man sie sich österreichweit in einem Positionspapier der Nationalparks Austria wünschen würde. Ein Nationalpark bringt natürlich immer auch Einschränkungen mit sich. Das muss man als Tourismusverband einmal mittragen können. Wir trauen uns, nicht nach „mehr, mehr, mehr“ zu streben. Und das bringt uns zurück zum Bergsteigerdorf. Der Alpenverein hat ja auch schon einmal ein Dorf wieder ausgeschlossen. Es braucht Mut zum Nein-Sagen. Aber dadurch wird man glaubwürdig.
Wie sieht nachhaltiger Tourismus im Gesäuse aus?
David Osebik: Wir stützen uns auf die Trias aus ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit. Ökonomische Nachhaltigkeit in einer Tourismusregion bedeutet, dass es weitgehend an Investoren und Fremdkapitalanteilen fehlt. Kleine Familienbetriebe überstehen Krisen wie aktuell Corona besser. Der Tourismus muss die Perspektiven der einheimischen Bevölkerung mitdenken. Sobald Tourismus als Belastung wahrgenommen wird, haben wir die soziale Nachhaltigkeit gekippt. Das sehen wir ja vielerorts, wo Heimat zwischen Gefälligkeitsarchitektur, inszenierten Almabtrieben und Schaulaufen zum Freilichtmuseum entartet. Die ökologische Nachhaltigkeit ist geteilt: da gibt es zum einen die Ökologie vor Ort, in unserem Fall den Nationalpark. Zum anderen ist Mobilität ein Thema. Im Bereich der Anreise gibt es leider immer noch viel zu wenige Angebote als Alternative zum Auto. Das liegt wohl auch daran, dass viele nach wie vor nicht glauben wollen, dass grenzenlose Mobilität im Urlaub auch ohne Auto möglich ist.
Ist der Luchs Trail ein Kompromiss aus touristischer Vermarktung und Nachhaltigkeit?
Herbert Wölger: Ja. Er verbindet die drei Schutzgebiete Nationalpark Kalkalpen, Nationalpark Gesäuse und Wildnisgebiet Dürrenstein miteinander und demonstriert dabei die ursprünglichen Werte der Region. Der Luchs Trail steht für Wald, Wildnis, Ursprünglichkeit und schafft Bewusstsein für verlorengegangene Natur, für Natur, die vom Menschen verdrängt worden ist. Der Luchs ist ein Sinnbild dafür, der Trail leistet Öffentlichkeitsarbeit für dieses Artenschutzprojekt. Ohne die Schutzgebiete gäbe es die sechs Luchse hier gar nicht erst. Nicht zuletzt pushen wir mit dem Weitwanderweg die allersanfteste Mobilitätsform überhaupt: das Zufußgehen. Weitwandern ist eine Art von „spiritual retreat“ für Nicht-Esoteriker. Der Mensch zählt bekanntermaßen nicht zu den schnellsten Säugetieren, aber er gehört sicher zu den ausdauerndsten. Das trifft den Zeitgeist, die Political Correctness, wenn man so will. An einem Ende steht die Flugreise, am anderen das Weitwandern.
David Osebik: Richtig. Damit zeigt der Luchs Trail, dass Naturschutz und Tourismus sehr wohl voneinander profitieren können. Man wandert durch den Lebensraum des Luchses und dieser Lebensraum steht wie ein Garant für gelebten Naturschutz. Sonst gäbe es, wie Herbert schon gesagt hat, ja erst überhaupt gar keine Luchse.
Wofür steht der Luchs?
Herbert Wölger: Der Luchs hat natürlich die Faszination vom schnellen Beutegreifer, von der tödlichen Katze auf der einen Seite und dem sanften Kätzchen mit weichem Fell und Kuscheltierqualität auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz haben alle Katzen, auch unsere Hauskatzen. Wir müssen allerdings immer wieder erklären, dass der Luchs keine Menschen frisst. Das ist nicht allen klar.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit einen Luchs entlang des Trails zu sehen?
Herbert Wölger: Die ist sehr, sehr gering. Aber der Luchs steht für Wildnis und Wildnis kann ich sehen und spüren. Ich bewege mich die ganze Zeit in seinem Lebensraum.
David Osebik: Man kann den Luchs vielleicht nicht sehen, aber man spürt ihn. Sobald man weiß, dass hier Luchse heimisch sind, bewegt man sich andächtiger und leiser. Das ist fast so als ob man in die Kirche geht. Man spürt die Anwesenheit von etwas, wenn man daran glaubt oder davon weiß. Glauben und Wissen spielen beim Luchs Trail zusammen, der Rest entsteht ganz automatisch im Kopf.
Aber hören kann man die Luchse, oder?
Herbert Wölger: Ja, in der Ranzzeit im Februar und März. Die Schreie des Luchses klingen aber fürchterlich, fast so wie ein Kind, das gerade schreiend seinem Mörder davonläuft.
Jeder von uns hat eine diffuse Vorstellung von Wildnis, aber wie genau erkenne ich sie?
Herbert Wölger: Zu sehen ist Wildnis vor allem am Wald. Dort wo der Wald wild ist, gibt es keine Forstwirtschaft, da brechen die alten Bäume irgendwann zusammen und bleiben liegen. Ein Wirtschaftswald wirkt ordentlicher, aufgeräumter.
Zurück zum Bergsteigerdorf: Der Luchs Trail führt ja auch durch Johnsbach. Wie gestaltet sich diese Etappe?
Herbert Wölger: Wir durchqueren Johnsbach auf der Luchs Trail-Etappe nicht nur, wir umrunden es praktisch und sehen es von allen Seiten. Es gibt keinen anderen Ort entlang des Luchs Trails, den man so im Detail genießen kann wie Johnsbach.
David Osebik: Und Johnsbach passt auch zur Wildnis. Für einen Großstädter ist Johnsbach nämlich schon auch ein bisschen wild und jedenfalls anders als das, was man aus der Stadt kennt. Eine wilde indigene Bevölkerung inbegriffen.
Fühlen sich die Luchse in Johnsbach wohl?
David Osebik: Einen Wolf haben wir, den Wigg, unseren Stammwirten Ludwig Wolf vom Kölblwirt. Dort fühlen sich immerhin die Menschen sehr wohl.
Christina Geyer hat Internationale Entwicklung in Wien und Hamburg studiert sowie das Kuratorium für Journalistenausbildung in Wien und Salzburg absolviert. Nach einer festen redaktionellen Tätigkeit beim Bergwelten Magazin arbeitet sie nun als freie Journalistin und Autorin in der steirischen Nationalparkregion Gesäuse. Jüngst ist ihr Buch „Die Heilkraft der Alpen“ im Bergwelten Verlag erschienen.