Im Tal der Stürzenden Wasser

Es war einer jener frisch gewaschenen Sommertage, wie sie nach längerem Schlechtwetter plötzlich da sind. Das Wetter passt, und nichts hält Dich mehr am Schreibtisch. Wohin also, wenn man ein paar Tage Zeit hat, eigentlich das Auto in der Garage lassen möchte und trotzdem schnell ein paar Gletscherberge sehen will?

„Vielleicht auf die Hochalmspitze? Das ist nicht weit. Einfach auf der Tauernautobahn bis Gmünd und dann hinein nach Malta“, sagt ein Auskenner. Also das kann jeder, denke ich mir, da gibt es sicher noch andere Möglichkeiten. Warum einmal nicht etwas ganz anderes, zum Beispiel von hinten her über die Jöcher?

Die Bahnlinie über den Tauern ist wirklich praktisch. Alle zwei Stunden hält der Intercity in Mallnitz und katapultiert den städtischen Bergfreund in den Nationalpark Hohe Tauern hinein. Nach einem kurzen Rundgang durch den Ort geht es gemütlich ins Seebachtal hinein, anfangs direkt auf den Ankogel zu, der mit seinen schneeschimmernden Flanken den Hintergrund des Tales ausfüllt. Rasch versinkt der Wald in der Tiefe, die „Pleschischg“, eine weitläufige Hochalm, tut sich auf. Von hier ist es nicht weit zur Celler Hütte. Sie ist tatsächlich, wie im Führer beschrieben, eine sorgsam in Stand gehaltene „Selbstversorgerhütte“ und lädt zur gemütlichen Nachtruhe ein. Der nächste Morgen ist eiskalt – kein Wunder nach einer klaren Nacht in über 2200 m Höhe. Heute wird es anspruchsvoller: die Lassacher Winkelscharte will erklommen sein, ein bockhartes Firnfeld ist zu überlisten. Gut, dass ein Eisbeil im Rucksack ist! In der Scharte endlich die ersten Sonnenstrahlen, hier kann man sich aufwärmen und zur Gießener Hütte hinunterblinzeln, die aus dem Gößkar herauf grüßt. In der Ferne erahnt man schon den tiefen Einschnitt des Maltatales. Zunächst aber wird der Tauernkönigin aufs Dach gestiegen. Im strahlenden Sonnenschein ist der wenig schwierige Detmolder Grat eine reine Freude. Nach einer Stunde ist die schmale Gipfelschneide der Hochalmspitze erreicht. Hier treffen die markanten Grate zusammen, denen dieser Berg seine ebenmäßige Form verdankt.

Ein kurzer Abstieg über den Südostgrat, dann wechsle ich auf das mit mächtigen Spalten verzierte Hochalmkees, das sich schier endlos nach allen Seiten dehnt. Der frische Schnee der vergangenen Tage blendet, die Sonne brennt und die Villacher Hütte, das nächste Etappenziel, will lange nicht näher rücken. Der Schneestapferei schon längst überdrüssig, erreicht man endlich das Gletschervorfeld und bald darauf liebliche alpine Matten, in denen der bald mächtig anschwellende Hochalmbach seine Zuflüsse sammelt und sie rauschend und brausend in die Steilflanken des Maltatales hinunterschickt. Noch ein weniges tiefer steigend, umfängt einen unvermittelt fast unnatürliche Stille – das Wasser ist wie vom Erdboden verschluckt. Ein Gitterwerk aus mächtigen Stahlschienen versperrt den Orkus und lässt nur den Bach ein, der nun seinen Dienst für die Stromerzeugung antritt. Durch ein kilometerlanges Stollensystem fließt er zum mächtigsten künstlichen Gebirgssee der Ostalpen, dem Kölnbreinspeicher. Wie ich später erfahre, reichen seine Kraftwerksanlagen aus, um eine Stadt von der Größe Innsbrucks mit Elektrizität zu versorgen.

Nachdenklich steige ich längs des nun trockenen Bachbettes weiter ab. Hat sich hier ein Tal geopfert um unser aller Bequemlichkeit und Behaglichkeit willen? Und was für ein Glück, dass vor zwanzig Jahren der Alpenverein mit Hilfe eines hochherzigen Mäzens den „Hochalmer“ und die anschließenden Flächen erwerben konnte. So ist wenigstens das damals geplante Gletscherschigebiet ein Luftschloss geblieben und die „Königin“ immer noch unberührt und Respekt gebietend.

Im Dorf angelangt, verfliegen solche Gedanken schnell. Die kleine Ansiedlung liegt wie eine Insel in den grünen Wiesen am Fuß des Maltaberges. Rund um die Pfarrkirche Mariahilf sammeln sich behäbige Steinhäuser, das Wirtshaus und ein winziges Gemischtwarengeschäft sind auch noch da. Und vom stillen Dorffriedhof schweift der Blick hinauf zur Tandelspitze, die als mächtiger Eckpfeiler der Reißeckgruppe das Tal beherrscht.