Besiedelung

In welcher Zeit und von wo die ersten Siedler in diese Gegend gezogen sind, darüber gibt es heute nur Mutmaßungen. Frühere Gene­rationen wussten zu erzählen, dass die ersten Bewohner von Lungiarü die salvans und die ganes gewesen sein sollen – damit befinden wir uns jedoch noch vollständig im Reich der Mythologie.

Archäologische Funde belegen, dass die Besiedlung des Campiller Tales schon um ca. 7000 v. Chr. begonnen hat. In den Som­mermonaten wurden die Wiesen unter dem Pütia / Peitlerkofel von Jägern und Sammlern aufgesucht. Hier kamen Reste von Stein­werkzeugen ans Tageslicht, deren Rohma­terial zum Teil aus den Lessinischen Bergen bei Verona und vom Monte Baldo stammt. Zu den ersten Spuren von Menschen, die das Tal durchzogen oder sich in Lungiarü nieder­gelassen haben, zählen eine Bronzefibel in Form eines Reiters, die noch zur Römerzeit gegossen wurde, und ein Ohrring. Wie vie­le Leute sich zur Römerzeit in dieser Region niedergelassen haben, ist schwer zu sagen. Eine größere Anzahl wird wahrscheinlich erst zur Zeit der Völkerwanderung vom Eisacktal über das Würz- und Kreuzjoch oder vom Pus­tertal gekommen sein.

Die letzte Einwanderungswelle erfolgte um das Jahr 1000. Zu dieser Zeit förderten die damaligen Grundherren die interne Koloni­sierung der Täler, um den Bodenertrag und die Bevölkerungszahl zu vermehren. Aus dieser Zeit existieren auch die ersten schriftli­chen Dokumente mit Grenzbeschreibungen. Im Jahr 1027 wird das Dorf Lungiarü zusam­men mit der orografisch linken Seite des un­teren Gadertales unter die Verwaltung des Bischofs von Brixen gestellt.

Der Bischof von Brixen war nicht nur kirchli­che Obrigkeit, sondern auch Grundbesitzer und Richter. Seine Güter im Campiller Tal wurden vom Pfleger in Thurn bis zum Jahre 1803 verwaltet. Aus dem Jahr 1580 ist eine Zeichnung erhalten, die das Ergebnis der ausgedehnten Rodungstätigkeit dieser Zeit zeigt: An den südexponierten Hängen rund um das Dorf wurden Felder und Mähwie­sen angelegt und von der höher gelegenen Waldweide und den Almen abgetrennt. Flur­namen mit dem Basiswort runcé ( < lat. run­care = roden) wie Plan da Runch, Chi Runc, Runciadücia sind lebende Kulturzeugen, die an diese Rodungstätigkeit erinnern. Ne­ben einer allgemeinen Bodenverbesserung strebte man mit der Abholzung der Wälder die Nutzung der am günstigsten gelege­nen Flächen an. Die urkundliche Nennung von Hofnamen im 14. Jahrhundert wie z.B. Col de Tolp, Corona, Costa, Seres und Tlisöra lässt auf eine stabile Besiedlung in dieser Zeit schließen. Im Volksmund wird Tolp, ein Hof oberhalb des Weilers Vi, als älteste Siedlung von Lungiarü angesehen.

Die erste sichere Erwähnung des Dorfes Lun­giarü reicht auf das Jahr 1312 mit dem Na­men „Campil“ zurück, wohl auszusprechen als „Ciampëil“, heute „Ciampëi“. Der Name „Lungiarü“ hingegen tritt erstmals in einer Urkunde des Jahres 1831 auf, was aber nicht ausschließt, dass die Bevölkerung diesen Na­men schon vorher gebraucht hat. Im Jahre 1349 ist erstmals auch die Rede von einer Wirtsfrau: „Elspet“ (Elisabeth), die Wirtin Simons von Campill. Wie aus der Pfarrchronik hervorgeht, stand das erste Gasthaus beim heutigen Hof „Ostì Vedl“ (Alter Wirt).

Infolge der Säkularisierung der Verwaltung und Gerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert gingen die Güter des Bischofs von Brixen schließlich rechtlich auf den Staat über. Die Ortschaften San Martin de Tor mit Picolin, Lungiarü, Antermëia und Rina, die früher das Gericht Thurn an der Gader bildeten, wurden zu einer einzigen Gemeinde zusammenge­legt. Im Jahre 1854 wurden Lungiarü und Rina von San Martin de Tor abgetrennt, um jeweils eine eigene Gemeinde zu bilden. Im Jahre 1930 wurde Lungiarü wieder zu San Martin de Tor / St. Martin in Thurn geschlagen und Rina kam zur Gemeinde Mareo / Enne­berg.

Katastrophen

Neben den Kriegen, Seuchen und Dürren, die viele Tote und schwere Notlagen verursach­ten, musste Lungiarü mehrere Unwetterka­tastrophen erdulden. Vor über 500 Jahren im Jahr 1490 wurde die erste Kirche und mit ihr sicherlich ein Teil der Dorfsiedlung durch ei­nen Murbruch zerstört. Ebenso vor 100 und vor 45 Jahren, als Überschwemmungen und Murbrüche große Schäden an Feldern und Gebäuden verursachten. Bei den Schnee­katastrophen von 1916/17, 1951 und 1986 rissen große Lawinenabgänge Gebäude mit sich und bedrohten ganze Weiler. 1942 gin­gen bei der großen Feuerbrunst im Ortszen­trum ein Gasthof und mehrere Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Flammen auf und der gesamte Dorfkern war in höchster Gefahr.